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Zitat Original geschrieben von Chrissi
Ein "Mekka" kann ich darin nicht mehr sehen, obwohl ich Historikerin von Beruf bin und mein Dissertationsthema der Neubeginn von Gruppen in bündischer Tradition nach 1945 ist, und obwohl ich natürlich mehrfach in den Archivbeständen der Lu gewühlt und auch davon profitiert habe. Aber aus Richtung Ludwigstein ist offenbar kein Erkenntnisgewinn mehr zur jüngeren Jugendbewegungs- und zur Pfadfindergeschichte zu erwarten, und diesen Eindruck teile ich mit vielen, die an der neueren Geschichte der Jugendbewegung, und hier besonders der Pfadfindergeschichte, interessiert sind.
Dazu passt, dass immer mehr private Archive mit Materialien von nach 1945 nicht mehr der Lu, sondern anderen Archiven, z.B. dem sehr gut geführten VCP-Archiv (wo mittlerweile auch nicht-VCPler ihr Zeug hingeben) oder regionalen Archiven vermacht werden - was damit zusammenhängt, dass diese privaten Archivare ebenfalls nicht den Eindruck haben, dass die Lu noch ernsthaftes Forschungsinteresse an ihrem Material hätte.
Das kommt halt dabei rum, wenn man die Jugendbewegung 1960 beendet sieht und sich auch so verhält. |
Geschichtsfälschung ist so ziemlich das heftigste, was man einem Historiker vorwerfen kann. Ich halte es nicht für angemessen, das hier zu tun und hoffe, dass Du dazu mit Jürgen im Austausch stehst - und Dich, wenn Du dann weiterhin von Deinem Vorwurf überzeugt bist, auch mit dem Fachgremium darüber auseinandersetzt, das dafür zuständig ist.
Für Außenstehende klingt es gerade so, als bringe das mit dem Archiv der Jugendbewegung nicht viel, wenngleich ich mir eigentlich sicher bin, dass Du das nicht so meinst. Vielleicht ist es dann doch gut, ein paar Zusammenhänge aufzuzeigen - auch auf die Gefahr hin, dass es ein bisschen komplizierter wird. Der Sinn dieses etwas komplizierten Gefüges ist ja gerade der, dass da nicht irgendjemand nur sein Ding machen kann.
Natürlich haben ForscherInnen für gewöhnlich Forschungsschwerpunkte. Das trifft auf Jürgen aber auch auf Dich zu. Jürgen engagiert sich seit vielen Jahrzehnten im Umfeld des Archivs, und so bleibt es nicht aus, dass er Menschen um sich schart, die an ähnlichen Dingen interessiert sind. Und weil ein jugendbewegter Historiker dem Thema Jugendbewegung selten vollkommen unemotional gegenübertritt, hat das dann auch oft mit dem zu tun, was ihn selbst in seiner Jugend bewegt hat. Wäre das bei Dir anders? Ich glaube z. B. nicht, dass Du ein Interesse daran hättest, Dich mit alternden Jungenschaftern vom Schlag derer zu umgeben, die auf der von Dir erwähnten Tagung vorgetragen haben - ganz unabhängig davon, wie wichtig deren Rolle in der Nachkriegszeit gewesen sein mag. Wenn Du Deinen Unmut über den Forschungsschwerpunkt von Jürgen nun mit der Feststellung verknüpfst, dass Archivalien ja auch an anderen Orten aufbewahrt werden können, dann halte ich das aber für unangebracht, denn das eine hat mit dem anderen wenig zu tun.
Die Archivverwaltung (und damit die Finanzierung von wenigstens drei qualifizierten Angestellten) obliegt dem Hessischen Staatsarchiv. So ist am wahrscheinlichsten, dass das Archiv verlässlich und dauerhaft unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten geführt wird - und zwar auch dann noch, wenn wir alle schon nicht mehr da sind. Bei Archiven, die im Wesentlichen ehrenamtlich oder aus Vereinsmitteln unterhalten werden, hängt es dagegen oft davon ab, ob gerade jemand verfügbar ist, der sich der Sache annehmen mag. Wenn sich so jemand findet, dann tut der das bisweilen auch begeisterter und mit mehr Forschungsinteresse als ein staatlich bestellter Archivar - aber selten so "neutral". Das verträgt sich also gerade nicht mit dem Eindruck, der aus Deinen Beiträgen entstehen könnte, dass da jemand, der sein persönliches Steckenpferd reitet, im Archiv die Zügel in der Hand hat. Die Archivangestellten sind verbeamtet und unterstehen allein der Fach- und Dienstaufsicht des Hessischen Staatsarchivs. Wenn jemand im Archiv forschen möchte, dann wird er vorbehaltlos unterstützt - ob SchülerIn, StudentIn oder ProfessorIn und ob über Söhne ohne Väter, Mütter ohne Töchter oder schwarze FahnenträgerInnen. Wer da worüber forscht, legt nicht das Archiv und schon gar nicht die Burg fest.
Zum Unverständnis vieler Jugendbewegter reagieren die Archivangestellten übrigens durchaus erleichtert, wenn die eine oder andere Wagenladung weniger angeliefert wird, und es kann auch vorkommen, dass Lieferungen zunächst einmal nur sicher verstaut und nicht gleich aufgearbeitet werden. Die Sicherung der Bestände hat da also tatsächlich Vorrang vor dem eigenen Forschungsinteresse. Die Erschließung von Archivalien ist ja zum einen zeitintensiver als sich das jemand, der damit nichts zu tun hat, vorstellen mag, und zum anderen landen die meisten Bestände früher oder später ohnehin im Archiv - wenn auch dann oft nicht mehr so geschlossen, wie man sich das gewünscht hätte. (Die Aussagekraft eines Nachlasses erschließt sich ja auch aus der Zusammenschau der Einzelobjekte.) Spürbar nachteilig ist das aber v. a. für die ArchivnutzerInnen, die sich mit der Materie wissenschaftlich auseinandersetzen möchten. Denn da ist es natürlich ungeheuer komfortabel, wenn das Material quer durch alle Zeiten und Strömungen an einem Ort verfügbar ist - im Fall unseres Bundes bspw. das des Bundes Deutscher Pfadfinder, das des Bundes Deutscher Pfadfinderinnen, das des Bundes der Pfadfinder, das des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder und das des Bundes Deutscher PfadfinderInnen. Das alles an einem Fleck zu haben und dazu noch Querbezüge zu anderen Bünden oder zum DJH überprüfen (und bei Bedarf im gleichen Haus übernachten) zu können, ist schon toll. Wenn das nicht so ist, überlegt man sich, wenn man zum Thema arbeitet, ja doch ab und an, ob man den einen oder anderen Briefwechsel wirklich noch berücksichtigen soll, von dem man nicht so genau weiß, ob er für die eigene Forschungsfrage entscheidend ist.
Um über den Archivbetrieb hinaus Projekte anzuregen und zu begleiten, gibt es den Wissenschaftlichen Beirat, in dem in der Mehrzahl ProfessorInnen versammelt sind. Darüber, wie ausgewogen der ist, kann man nun trefflich streiten. Das über so etwas gestritten wird, ist aber kein Alleinstellungsmerkmal des Archivs der Jugendbewegung. Wer sich dort einbringt, hat natürlich auch Einfluss auf die Themenschwerpunkte der jährlichen Archivtagungen. Die beziehen sich aber wiederum eher auf das, was in den jeweiligen historischen Epochen bestimmend war als auf das, was wir heute wichtig finden. Und da können beim Thema Jugendbünde in der Nachkriegszeit die Söhne ohne Väter (Steckenpferd hin oder her) wichtiger sein als die nach Gleichberechtigung strebenden Frauen. Wenn ein "männerbündischer" Zeitzeuge dort bekennt, dass Jugendliche das, was er in seiner Jugend erlebt hat, heute nicht mehr erleben können - und Mädchen schon gar nicht, dann ist das nun einmal die Auffassung von jemandem, der für diese Zeit steht. Eine für die gleiche Epoche typische Zeitzeugin würde Dich mglw. nicht glücklicher machen. Wenn sich eine Archivtagung dagegen mit den 80er oder 90er Jahren befasst, dann stehen da sicher andere Aussagen im Raum. So weit ist man aber in der historischen Betrachtung noch nicht; was weniger als 30 Jahre zurückliegt, ist für ein Archiv nur beiläufig von Belang. Und wenn man so weit ist, sitzen mit Sicherheit andere VertreterInnen im Beirat, und deren Schwerpunktsetzung wird dann mglw. von denen, die dichter an den dann aktiven Gruppen stehen, genauso skeptisch betrachtet wie jetzt die derer, die sich heute dort engagieren.
Wenn Gruppen dagegen aktuelle Themen angehen oder das Archiv aus diesem Blickwinkel durchforsten möchten, können sie das jederzeit über die Jugendbildungsstätte tun, die dann auf Wunsch eine Archivwerkstatt vorbereitet. Das Archiv hat dafür auch einen eigenen Seminarraum. Wie wissenschaftlich da geforscht wird, hängt dann aber vom Interesse und von der Qualifikation der Interessentinnen ab.
Wer sich fragt, worin denn nun eigentlich die Rolle von Jürgen Reulecke besteht: Weil er sich lange Zeit und an vielen Stellen eingebracht hat, hat sein Wort im Umfeld des Archivs sicher mehr Gewicht als das vieler anderer. Wenn das weniger Vorzüge als Nachteile hätte, würde man ihm das aber sicher signalisieren. Als Vorsitzender der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, zusätzliche Mittel für das Archiv einzuwerben, ist er aber an keiner Stelle organisatorisch in das Gesamtgefüge eingebunden.
Und der Vollständigkeit halber sei ganz zum Schluss noch der Archivverwaltungsrat erwähnt. An dieser Stelle kommen dann der Stiftungsvorstand und die von der Vereinigung bestellten ArchivkuratorInnen ins Spiel. Der Beitrag der Stiftung Jugendburg Ludwigstein besteht ja v. a. in der Bereitstellung der Räumlichkeiten, die für eine fachgerechte Aufbewahrung und Verwaltung erforderlich sind. 2011 wurden hierfür z. B. zwei neue Magazinräume im Bilsteinflügel an das Archiv übergeben und 2012 ein weiterer Magazinraum im Enno-Narten-Bau eingerichtet, so dass aus Mitteln, die die Burgherberge erwirtschaftet, bislang ca. 15 Räume (etwa 650 qm) geheizt, gereinigt und instand gehalten werden - immer in unmittelbarer Nähe zu geeigneten Unterbringungs- und Veranstaltungsräumen. Dass das Archiv die Burg im Rücken hat, ist also schon auch ein Vorteil.
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