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Liebe Wandervögel, liebe Bündische,
es fällt auf, dass sich immer mehr Wandervogel-Gruppen/bündische Gruppen darüber beklagen, wie zunehmend schwer es ihnen wird, jugendlichen Nachwuchs anzuwerben/neue Jugendgruppen aufzubauen. Im Gegensatz dazu hört man von den Pfadfindern, dass sie wenig oder weniger Schwierigkeiten haben, Jugendliche zu gewinnen. Es wird anschließend nach den Gründen dafür gefragt, weil doch in früheren Generationen die Wandervögel eine zahlenmäßig beachtliche Bewegung gewesen sind.
Der Grund liegt nach meinen Beobachtungen darin, dass Eltern und Jugendlichen von heute unsicher fragen, was Wandervögel/Bündische eigentlich wollen und weshalb es sich lohnt, zumindest eine Zeitlang zu ihnen zu kommen.
Was hat eigentlich früher Jugendliche am Wandervogel so gereizt, dass der sich in wenigen Jahren wie ein Lauffeuer durch ganz Deutschland verbreitete?
1. Vor 100 Jahren hielten sich die meisten Jugendlichen in der Familie auf oder begannen früh in den Arbeitsprozess einzutreten oder gingen auf höhere Schulen. Da war das Angebot, aus den Städten und Familien hinaus in die Natur zu wandern, etwas reizvoll Neues.
2. Dann legte damals das wohlhabende Bürgertum und die wohlhabende Arbeitnehmerschicht Wert auf ein bequemes Zuhause. Draußen schlafen und einfach essen war eine Domäne der Soldaten. Da war das Angebot, dass auch die Jugendlichen unter einfachen Bedingungen auf ihren Wanderungen leben wollen, etwas reizvolles Neues.
3. Um 1800 und in der Biedermeierzeit waren zwar das Volkslied und die Volksballade als Kulturgut wieder entdeckt worden, aber gesungen wurden sie im Volk noch relativ wenig. Um 1900 dominierten musikalisch die klassische „wertvolle“ Musik oder die Gassenhauer der Straßenmusikanten und es begann die frühe Schlagerzeit. Eine Wiederentdeckung, Pflege und Verbreitung der Volkslieder, der Wanderlieder, der Lieder der einfachen Leute, der Abenteurer und Landsknechte und die Balladen waren ein reizvolles Gegengewicht gegen diese damalige „Musikkultur“.
Heute kann man mit „fahrten, singen, in der Natur schlafen“ alleine nicht mehr auf eine große Werbewirkung rechnen. Mit den modernen Verkehrsmitteln fährt der Jugendliche regelmäßig fort von Zuhause und durch die Natur. Den Reiz einfachen Lebens und des Essenzubereiten am Feuer haben längst die Camping-, Trecking- und Grill-Industrie für sich entdeckt. Und die moderne Musik-Berieselung und die Musik-Konserven haben das eigene Singen weitgehend erstickt.
Die Pfadfinder haben ein zeitloses pädagogisches und spannendes Lehr-Programm, das sich gut anhört und bei vielen Eltern den Eindruck erweckt, dass es nicht schaden kann, wenn ihre Kinder mal für einige Zeit dabei sind. Viele Pfadfindergruppen engagieren sich zusätzlich sehr erfolgreich und öffentlichkeitswirksam auf sozialen Gebieten.
Die Wandervogelbewegung hat keinen pädagogischen Auftrag mit klarem Rahmenprogramm.
In ihr haben sich Personen mit ähnlichen Zielen und Eigenschaften zusammen gefunden. Das Wandervogel-Wesen kann man schwerer theoretisch vorstellen. Letztlich kann man es durch eigenes Erleben erfahren. Trotzdem muss ein Rahmen an anspruchsvollen Zielsetzungen vorhanden sein, die man an Werbe-Veranstaltungen nach außen darstellen kann.
Bei Werbe-Veranstaltungen erwecken Wandervögel/Bündische mit den Angeboten „wandern, singen und in der Natur schlafen“ bei Eltern und Jugendlichen immer weniger Interesse, zumal sie immer weniger in der Öffentlichkeit präsent und damit bekannt sind und sich zunehmend in romantische Eremitagen wie einsame, romantische Orte/Gegenden im Inland und besonders im Ausland zurück ziehen.
Natürlich trifft das nicht auf alle Wandervogelgruppen/bündische Gruppen zu, aber doch auf viele.
Dabei haben die Wandervögel, wenn man auf ihre 100-jährige Geschichte zurück blickt, weit mehr Zielsetzungen gehabt als „fahrten, klampfen, singen und in der Natur pennen“. Man müsste an die zusätzlichen und schönen Zielsetzungen der Wandervögel/Bündischen sich nur wieder erinnern. Und diese weiteren Zielsetzungen hätten bei Werbungen auch heute noch mehr Zugkraft als nur „fahrten, singen, Kohtennächte“ - so meine ich.
Ich habe diesen Konflikt zwischen dem unterschiedlichen „Nachwachsen“ bei Pfadfindern und Wandervögeln in ein längeres satirisch-ernstes Sokrates-Gespräch gefasst, wobei ich, dem Genre entsprechend, erheblich schwarz-weiß gezeichnet habe, nämlich bei dem Werbeversuch eines starr-konservativen Pfadfinderführers und eines tölpelhaft-ideenarmen Wandervogels. Am Schluss lasse ich dann Sokrates und einen alten Wandervogelführer eine unverbindlich-offene Liste von Zielsetzungen zusammenstellen, die in der Wandervogelbewegung einmal angestrebt wurden und die als Ideen-Angebot für die bündischen Gruppen gedacht ist. Dieses Gespräch mit dem Titel „Sokrates, die Wandervogel, die Pfadfinder und ein Informationsabend in einer Schule“ findet man auf der Webseite www.buendische-blaue-blume.de und dort unter den Sokrates-Gesprächen.
Ich möchte hier gerne nur diese offene, unverbindliche Liste von historischen Zielsetzungen in der Wandervogelbewegung zur Diskussion stellen. Fehlen wichtige frühere Zielsetzungen? Sind einige für die Gegenwart überholt? Welche wären für die Gegenwart und Zukunft verdient zu reaktivieren? Genügen die Zielsetzungen Fahrten, Singen, Kohtennächte, um den Wandervogel in Zukunft als marginale Kleinbewegung überleben zu lassen? Oder soll man den Wandervogel einfach als überholt allmählich versinken lassen?
Diese offene, unverbindliche Zusammenstellung lautet:
- Die Wandervogelbewegung hat zwar als Jugendbewegung begonnen, ist aber längst eine romantische Bewegung für alle Altersstufen geworden. Die Bezeichnung „Jugendbewegung“ ist also geschichtlich überholt. Die Mitglieder der Gruppen stammen aus allen Gesellschafts- und Bildungsschichten. (Anmerkung: das ist die heutige Realität)
- Durch die Wandervogelbewegung sollen Jugendliche und Erwachsene ermutigt werden, aus den Städten und modernen Wohnanlagen wieder in die Natur und in wenig besiedelte Land-schaften in Deutschland und anderswo hinaus zu streben und diese zu erleben. (Anmerkung: bereits bei Hoffmann, Karl Fischer und Hans Breuer so gelebt und formuliert)
- Zur körperlichen Stärkung und Gesunderhaltung soll möglichst viel gewandert werden. Die modernen Verkehrsmittel werden nur genutzt, um größere Entfernungen zu den ausgewählten Wandergebieten zu überwinden. (Anmerkung: bereits bei Hoffmann, Karl Fischer und Hans Breuer so gefordert und gelebt)
- Die Wandervogelbewegung tritt auf ihren Fahrten und Treffen für eine einfache Lebens-führung ein, als Gegengewicht gegen das moderne Wohlstandsleben. Das betrifft besonders Ernährung, Übernachtung und Kleidung. (Anmerkung: z.B. bereits bei Hoffmann, Karl Fischer und Hans Breuer so gelebt und gefordert)
- Die Wandervogelbewegung fördert besonders bei den Jugendlichen das Einordnen in eine Gemeinschaft und das Freundschaftserlebnis. (Anmerkung: z.B. unter Karl Fischer und Hans Breuer so gewünscht, später ebenfalls von Robert und Karl Oelbermann, Tusk und Alo Hamm)
- Die Wandervogelbewegung fördert die Beschäftigung mit erdkundlichen, volkskundlichen, naturkundlichen und historischen Gegebenheiten der erwanderten Gebiete. (Anmerkung: z.B. bei Hans Breuer so gewünscht, bei Tejo und Alo Hamm so gelebt)
- Die Wandervogelbewegung fördert die musischen Bereiche und besonders das Singen und Musizieren. Anspruchsvolles Singen und Musizieren sollen Ausdruck des Wandervogel-Erlebens sein. (Anmerkung: besonders von Hans Breuer, Tusk und Alo Hamm gefordert)
- Die Wandervogelbewegung ist politisch und weltanschaulich neutral. Ihre Heimat ist nicht die Politik, sondern die romantische Welt der blauen Blume. (Anmerkung: zentrale Forderung von Robert und Karl Oelbermann)
- Die Wandervogelbewegung ist gleichzeitig kritisch-wachsam gegenüber den Strömungen und führenden Personen ihrer Zeit und bemüht sich mit allen Kräften, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Sie ist gegen jegliche Kriege, außer wenn es sich um eindeutige und notwendige Verteidigungen handelt (Anmerkung: zentrales Anliegen von Alo Hamm)
- Für die Wandervogelbewegung sind Ehe, Familie, Beruf und Bildung voll mit dem Wander-vogelleben vereinbar (Anmerkung: z.B. schon von Hans Breuer so gefordert)
- Die einzelnen Wandervogelgruppen und ihre Mitglieder, auch wenn sie sich später aus dem Gruppenleben zurückgezogen haben, bemühen sich, um sich kleine Inseln des Guten und des Ausgleichs zu schaffen. Gegenüber den großen idealistischen Versuchen, die Menschen und die Welt zu verbessern, wird Zurückhaltung gewahrt, weil die Menschen und damit die Welt stets unvollkommen bleiben werden. (Anmerkung: zentrales Anliegen von Axi)
- Die Wandervogelbewegung strebt eine gute Kenntnis über Deutschland an, darüber hinaus aber auch über andere Länder und Gesellschaften. Sie ist sowohl Heimat-interessiert als auch Völker-verbindend (Anmerkung: besonders bei Robert und Karl Oelbermann und Alo Hamm so gefordert und gelebt)
Eine Abschlussbemerkung.
1. Dieser Vorschlag einer Diskussion über Zielsetzungen innerhalb der Wandervogelbewegung soll eine Ergänzung sein zu ähnlichen Diskussionsthemen im Pfadfindertreffpunkt. Er packt das Thema nach meinem Eindruck etwas komprimierter an.
2. Bezüge zur Meißner-Formel wurden bewusst nicht vorgenommen. Auf dem Meißner-Treffen von 1913 war nicht der Wandervogel primär, sondern mehr die Reform-Jugend tonangebend. Ein Teil der Wandervogelbewegung fehlte bewusst. Hans Breuer, Herausgeber des Zupfgeigenhansels und zeitweise Bundesführer des damals größten Wandervogelbundes, der ursprünglich als Festredner vorgesehen war, nahm dieses Angebot nicht war und sein Bund entsandte nur Beobachter, weil man spürte, dass hier Konzepte gedacht wurden, die über den Wandervogel hinaus gingen.
3. Der Terminus „bündisch“ wurde in dem ausführlichen Sokrates-Gespräch als übergeordneter Begriff für solche Gruppen benutzt, die Wandervogelformen praktizieren/übernommen haben. So wird der Begriff in jüngster Zeit umgangssprachlich von Insidern nach meinem Eindruck auch benutzt, auch wenn er ursprünglich eine ganz andere Entstehungsgeschichte hat. Die Nazis haben den Begriff in diese Sammelrichtung umgelenkt. Und derzeit sucht man sprachlich auch nach einem übergeordneten Sammelbegriff für Wandervogel und wandervogelähnliche Gruppen im Gegensatz zur Pfadfinderbewegung.
4. Vielleicht ist eine Diskussion auch insofern lohnenswert, als durch Rückblicke oft notwendige Neuorientierungen ausgelöst werden können. Und ich meine, dass viele Wandervögel wieder heraus müssen aus selbst gewählten Eremitagen und sichtbar wieder in die deutschen Städte, Dörfer und Schulen gehören, damit man sich ihrer wieder in Deutschland bewusst wird. Aber dann sollten sie auch zugkräftige und überzeugende Werbe-Angebote auf Lager haben.
Helmut Wurm, 10. 2. 011
Dieser Beitrag wurde 2 mal editiert, zuletzt von puschkin am 13.02.2011 - 06:58.
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